Die Aneignung moralischen Wissens sowie des Willens und der Fähigkeit, es auch umzusetzen, erfolgt bei Kindern zunächst in der Familie. Welche Prozesse dort genau stattfinden, wurde bislang jedoch nur unzureichend untersucht. Die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Monika Witzke hat diese Forschungslücke nun ein Stück weit geschlossen.

Im Zentrum der Analyse, die Dr. Monika Witzke für ihre Promotion durchführte, stand die Frage, auf welche Weise Kinder und Eltern Moralvorstellungen in ihr Selbstbild integrieren und welche Rolle dabei innerfamiliäre Prozesse spielen. Dazu hat sie insgesamt 24 Familien aus Bayern und Baden-Württemberg mit zwei Elternteilen und mindestens einem Kind in der vierten Klasse untersucht.
Witzke und ihre KollegInnen haben jede dieser Familien besucht und dabei mit allen Familienmitgliedern separat gesprochen. Unter anderem fragten sie dabei nach moralischen Regeln, die aus Sicht der Teilnehmenden für alle Menschen gelten – etwa, niemanden zu verletzen oder nicht zu lügen. „Insbesondere hat uns interessiert, wie die Befragten mit diesen Regeln umgehen: Ob Familienmitglieder moralische Regeln verhandeln oder ob diese Regeln als gesetzt gelten; unter welchen Umständen sie solche Regeln brechen und der jeweilige Regelbruch gegebenenfalls für erlaubt erachtet wird; wie Verstöße in der Familie geahndet werden und wovon das abhängt“, erklärt die Pädagogin.
Vorbildfunktion nutzen
Die Auswertung der Daten zeigt, dass beim Umgang mit moralischen Regeln die Eltern eine moralische Vorbildrolle vor den Kindern oft nur zu spielen versuchen. Etwa wenn sie vor den Kindern immer schön den Fahrradhelm aufsetzten, nicht lügen und nicht fluchen, in Abwesenheit der Kinder aber gegenteilig handeln. Dies bleibt den Kindern der Studie aber in der Regel nicht verborgen. Die Eltern erziehen ihre Kinder auf diese Weise tendenziell dazu, eine Rolle zu spielen, nicht aber, eine moralische Identität zu entwickeln.
Werden Verstöße gegen moralische Regeln in der Familie nicht als solche diskutiert, besteht zudem das Risiko, dass die Kinder diese als richtiges Verhalten akzeptieren lernen. „Wenn etwa der Vater sein Kind ohrfeigt, kann es sein, dass das Kind dieses Verhalten danach entschuldigt“, erklärt Witzke. „Es sagt dann zum Beispiel, das Schlagen sei legitim gewesen – schließlich habe es sich selbst zuvor falsch verhalten. Für die Entwicklung einer moralischen Identität ist ein solch unkritischer Umgang mit Regelverstößen verständlicherweise nicht förderlich.“
Erziehung schwer mit Beruf vereinbar
In der Studie tritt zudem zutage, wie sehr der Spagat zwischen Job und Erziehung die Beteiligten fordert. Bei den befragten Familien waren meist die Männer die Hauptverdiener. Nach einer anstrengenden Arbeitswoche zogen sich manche von ihnen auch an den Wochenenden aus gemeinsamen Unternehmungen heraus und waren so insgesamt wenig über das Familienleben informiert. Das Resultat waren Schwierigkeiten, sich gegenseitig zu verstehen und anzuerkennen.
Gleichzeitig empfanden manche Väter dieses Verhalten zum Teil selbst als Versagen in ihrer Erzieherrolle und versuchten, dieses Defizit durch Strenge in anderen Zusammenhängen zu kompensieren. „Mitunter wurden sie von ihren Kindern jedoch gar nicht mehr als moralische Instanz und Erzieher ernst genommen“, erklärt Witzke. Die Vorstellung, sowohl bei der Arbeit als auch als Eltern perfekt sein zu müssen, überfordert aus ihrer Sicht viele Väter und Mütter. Allerdings seien die gesammelten Daten nicht repräsentativ und ließen sich nicht allgemein auf Deutschland übertragen.
(idw) Michael Hallermayer, Universität Augsburg
Originalpublikation: Monika Witzke: Moralerziehung in der Familie. Eine empirische Studie über reziproke Vermittlungs- und Aneignungstätigkeiten in Eltern-Kind-Beziehungen mit Fokus auf moralbezogene Regelbrüche sowie Leit-, Selbst- und Fremdbilder. Klinkhardt forschung, 2020.