Durch die Bereitstellung von weiteren 600.000 EUR werden zwei zusätzliche Forschungsprojekte ermöglicht, die wirksame Therapien aus dem Bereich der Komplementären und Integrativen Medizin (KIM) beim Post-COVID-Syndrom identifizieren sollen. Eines leitet Prof. Dr. Gustav Dobos, Universitätsklinikum Essen, das andere Dr. Michael Jeitler, Charité Berlin. Beide setzen auf eine Steigerung der Selbstwirksamkeit der Betroffenen, um die Symptombelastung zu verringern. Im Idealfall liefern sie daneben neue Erkenntnisse über das wissenschaftlich immer noch wenig durchdrungene Phänomen.

Potenzial der Komplementären und Integrativen Medizin
Obwohl Post-COVID-Symptome bekannten funktionellen oder psychosomatischen Diagnosen ähneln, für deren Behandlung integrativmedizinische Ansätze die mitunter beste Evidenz aufweisen, werden 91 % der Patienten mit medizinisch unerklärbaren Syndromen (MUS) ausschließlich von Allgemeinmedizinern und Fachärzten für somatische Medizin betreut. „Naturheilkundlich-regulationsmedizinische Ansätze bergen somit das Potenzial, sowohl Therapieoptionen als auch Erklärungen für Symptome zu finden, die zum jetzigen Zeitpunkt durch ein rein biophysiologisches Krankheitsmodell nicht zu fassen sind“, sagt Prof. Dr. Gustav Dobos, Direktor des Zentrums für Naturheilkunde und Integrative Medizin des Universitätsklinikums Essen.
Was man nämlich weiß, ist, dass Symptomakzeptanz, Reduktion von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten, Entwicklung von Achtsamkeitsskills, Selbsthilfestrategien, Steigerung der Selbstwirksamkeit, Steigerung der physischen Aktivität und die wahrgenommene soziale Unterstützung zu den Mechanismen gehören, die die MUS-Symptomatik beeinflussen. Genau diese sind eine Domäne traditioneller Naturheilverfahren, finden sich beispielsweise in den fünf Therapiesäulen nach Kneipp: Ernährung, Bewegung, Hydrotherapie, Phytotherapie und Ordnungstherapie.
Projekt: Multimodales Gruppenprogramm auf Basis von Kneipp
Ein Forscherteam um Prof. Dr. Dobos und Dr. Heidemarie Haller wird in Kooperation mit Prof. Dr. Dr. Mark Stettner und Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz aus der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Essen eine einfach verblindete, randomisiert kontrollierte Studie mit zwei Armen durchführen. Insgesamt sollen 86 Probanden mit Post-COVID-Syndrom eingeschlossen und zufällig in zwei Gruppen verteilt werden.
Studienaufbau
Gruppe 1 wird ein 10-wöchiges Gruppenprogramm durchlaufen, das auf den Therapiesäulen nach Kneipp basiert. Die Probanden werden einmal wöchentlich in einem Umfang von jeweils drei Stunden zusammenkommen, demnach wird es zu jeder Kneipp‘schen Säule zwei Einheiten geben. Diese beinhalten einen edukativen und einen praktischen Teil mit dem Ziel, eigene Strategien zur Krankheitsbewältigung zu entwickeln und diese aktiv in den Alltag zu integrieren. Pflanzenbasierte Vollwertkost und medizinische Tees sollen genutzt werden, um die Rekonvaleszenz zu stärken. Achtsame Bewegungseinheiten in der Natur sollen dabei helfen, die Wirkung des Tageslichts bzw. von Vitamin D auf das Immunsystem zu nutzen. Im Bereich Hydrotherapie werden Wasseranwendungen, Trockenbürstungen sowie Wickel und Auflagen zum Einsatz kommen. Es wird eine ärztliche Beratung zu pflanzenheilkundlichen Optionen bei individuellen Symptomen wie Schlafstörungen, Verdauungsbeschwerden, Schmerzen, Husten, Ängsten oder Gedankenkreisen geben. Ordnungstherapeutisch soll schließlich eine Balance der Lebensführung in beruflichen, familiären und sozialen Bereichen erleichtert werden. Hierzu werden beispielsweise Entspannungs- und Meditationsverfahren vermittelt. Um das Gelernte zu vertiefen, erhalten die Teilnehmer in Gruppe 1 zusätzlich ein Selbsthilfebuch und ‚Hausaufgaben‘.
Gruppe 2 stellt die Kontrollgruppe dar und wird zunächst auf eine Warteliste gesetzt. In beiden Gruppen ist zu jedem Zeitpunkt jeweils die Standardtherapie (zusätzlich) erlaubt. Ebenso soll in beiden Gruppen ein Symptom- und Therapietagebuch geführt werden.
Geprüft werden soll in erster Linie, ob das Gruppenprogramm als Add-On zur Standardtherapie die Selbsthilfefähigkeiten besser steigern und die Belastung durch die Post-COVID-Symptome stärker lindern kann, als die Standardtherapie allein. Auch Parameter der Lebensqualität, der kardiovaskulären bzw. pulmonalen Leistungsfähigkeit und des sog. Flourishings, des „Aufblühens“ der Probanden als motivierte Persönlichkeiten, werden u.a. zu vier Zeitpunkten vor, während und bis zu 16 Wochen nach Ende der Interventionsphase erfasst.
Projekt: Multimodales Online-Angebot und Biosignalanalyse
Einen ähnlichen Weg geht auch das zweite Forscherteam, mit einem Unterschied: auch hier werden Grundprinzipien einer pflanzenbasierten Vollwerternährung, der Hydrotherapie nach Kneipp, naturheilkundliche Selbsthilfestrategien sowie Elemente der Ordnungstherapie und Mind-Body-Medizin vermittelt – allerdings online. „Die Studie stellt einen Prototyp für die optimale Nutzung moderner digitaler Tools in naturheilkundlichen Versorgungssituationen dar und könnte als Best-Practice-Modell für Online-Therapieansätze fungieren“, sagt Dr. Michael Jeitler, Stellv. Forschungskoordinator in der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin. Hierfür gibt es einen dringenden Bedarf, denn man weiß, dass in Präsenz nur ein Sechstel der Bevölkerung mit entsprechenden praxisnah vermittelten Lebensstilinterventionen erreicht wird.
Studienaufbau
Die Hypothese: Die körperliche Belastbarkeit von Patienten mit Post-COVID-Syndrom verbessert sich durch eine Kombination aus naturheilkundlicher Therapie im Online-Setting und Routineversorgung stärker als durch die Routineversorgung allein. Insgesamt 120 Probanden sollen in die zweiarmige, randomisiert-kontrollierte Studie eingeschlossen werden. Gruppe 1 wird über einen Zeitraum von 2 Monaten einmal wöchentlich eine Online-Schulung von jeweils 120 min. Dauer erhalten. Dazu wird es die Empfehlung geben, das Gelernte täglich in etwa 30-minütigen Übungen zuhause zu vertiefen. Ebenso soll ein Online-Tagebuch geführt werden. Die Beobachtungsdauer pro Patient beträgt 12 Monate. Die Kontroll-Gruppe 2 wird auch hier zunächst auf eine Warteliste gesetzt.
Ein Highlight des Projekts stellt eine physiologische Teilstudie dar, in welcher die Etablierung und Validierung einer Biosignal-Charakterisierung des Post-COVID-Syndroms und insbesondere der prominenten Fatigue-Symptomatik im Mittelpunkt steht. Hierzu werden bei Patienten mit Fatigue gleichzeitig Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz, Puls, elektrodermale Aktivität und Hirnaktivität gemessen. „Dieser Ansatz soll ermöglichen, die bislang schwer objektivierbaren klinischen Symptomveränderungen der Fatigue objektiv zu quantifizieren“, so Dr. Jeitler. „Wir erhoffen uns ein besseres Verständnis über die Fatigue selbst sowie ihre Rolle im Post-COVID-Syndrom. Idealerweise wird dies zukünftig die Diagnose verbessern.“
Darüber hinaus wird es eine eingebettete qualitative Teilstudie geben. Nach zwei Monaten werden sowohl einige Probanden als auch behandelnde Hausärzte in Einzelinterviews zu ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen befragt, um die naturheilkundlichen Interventionen langfristig noch besser auf die Bedürfnisse und Bedarfe der Patienten anpassen zu können.
Quelle und weitere Informationen: Karl und Veronica Carstens-Stiftung